Inkognito – Erfahrungen jenseits der Identifikation

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Wei­ter­le­sen

In­ko­gni­to

Er­fah­run­gen jen­seits der Iden­ti­fi­ka­ti­on

Er­fah­run­gen der Ver­ban­nung
Sie haben schwar­ze Fah­nen der Hoff­nung
und die Me­lan­cho­lie ist ihre Tanz­part­ne­rin.
Sie haben Mes­ser, um das Brot der Freund­schaft zu schnei­den
und Blut, um den Schmutz weg­zu­wa­schen

Leo Ferré, Die An­ar­chis­ten

Ich hatte die Ge­le­gen­heit, ei­ni­ge For­men der Ver­ban­nung für kurze Zeit­räu­me zu er­fah­ren: Leben im Ver­bor­ge­nen, Ge­fäng­nis und Ver­trei­bung. Auch wenn sie alle Be­din­gun­gen sind, wel­che durch Re­pres­si­on auf­ge­zwun­gen wer­den, so sind sie von­ein­an­der doch sehr ver­schie­den. Ich werde über sie spre­chen, denn sie sind Ex­pe­ri­men­te der Frei­heit.

Je­doch be­ab­sich­ti­ge ich die Ge­dan­ken, wel­che diese Um­stän­de in mir her­vor­ge­ru­fen haben, zu um­schrei­ben, nicht aber die prak­ti­schen As­pek­te. Ich werde mich der damit zu­sam­men­hän­gen­den „in­ne­ren“ Di­men­si­on wid­men, dann werde ich ver­su­chen, ei­ni­ge ge­ne­rel­le Schluss­fol­ge­run­gen zu zie­hen. Dies ist der Weg den ich be­vor­zu­ge. In der Tat, was die zahl­rei­chen Er­eig­nis­se an­geht, wel­che ich er­lebt habe, ten­die­re ich dazu, mich an die cha­rak­te­ri­sie­ren­den Ideen und emo­tio­na­len Ver­fas­sun­gen zu er­in­nern. Ich werde die Er­zäh­lung, die Dis­kus­si­on und Kurz­no­ti­zen be­nut­zen. Manch­mal werde ich die Worte an­de­rer Leute zi­tie­ren, je­doch nur des­we­gen, weil zu jenen An­läs­sen diese Worte für mich von ent­schei­den­der Be­deu­tung waren. Nur ein ent­fern­tes Echo in der ei­ge­nen Er­fah­rungs­welt der Le­sen­den wird in der Lage sein, diese Zei­len von einer blo­ßen li­te­ra­ri­schen Übung zu un­ter­schei­den. Meine ex­trems­te Er­fah­rung be­trifft nicht Angst oder den Man­gel an Frei­heit. In einem sei­ner Ge­dich­te aus dem 1. Welt­krieg be­schreibt der Poet Un­ga­ret­ti, wie er sich einen Tag „ge­fü­gig wie eine Faser im Uni­ver­sum“ ge­fühlt hat. Je­doch be­nutzt der Poet die­sen Aus­druck um zu sagen, dass er an seine An­teil­nah­me am Uni­ver­sum dach­te, wo­hin­ge­gen meine Er­fah­rung scho­ckie­rend und ver­wir­rend war. Ich er­in­ne­re mich, wie mir die Worte Un­ga­ret­tis als die pas­sends­ten in den Sinn kamen (wenn dein Herz die Kor­re­spon­den­zen dei­ner Sinne in ein selt­sa­mes Uni­ver­sum na­mens In­tui­ti­on pumpt). Stolz än­der­te ich „füg­sam“ in „zer­brech­lich“ und ver­such­te mich davon zu über­zeu­gen, das letz­te­res ei­gent­lich das Wort ist, das der Poet schrei­ben woll­te. Doch ich fühlt mich nicht, als sei ich le­dig­lich „zer­brech­lich“. Ich war auch „füg­sam“. Warum?

Ich hatte mich in einem Wald ver­lau­fen. Beim Ver­such, einen Weg her­aus zu fin­den, stürz­te ich eine Klip­pe hinab. Glück­li­cher­wei­se ver­hin­der­te mein Ruck­sack, dass ich mir den Rü­cken brach, al­ler­dings hatte ich sol­che Schmer­zen, dass ich für eine Nacht und einen Tag be­we­gungs­los in einem aus­ge­trock­ne­ten Fluss­bett lag. Schnell war mein Essen und Was­ser auf­ge­braucht. Ich ver­brach­te Tage mit dem Ver­such, hin­auf­zu­klet­tern und einen Punkt zu fin­den, von wel­chem ich mich ori­en­tie­ren könn­te, davon eine Nacht im Regen. Der vier­te Tag ver­ging und neben dem Hun­ger und der Mü­dig­keit die ich ver­spür­te, be­gann ich in einen selt­sa­men in­ne­ren Schwin­del zu ge­ra­ten. Ab einem be­stimm­ten Punkt be­gan­nen die un­ter­schied­li­chen Sei­ten mei­nes Cha­rak­ters mit­ein­an­der zu ar­gu­men­tie­ren und zu strei­ten, so als ob sie un­ter­schied­li­che Per­so­nen wären. Ihre Dis­kur­se waren so rea­lis­tisch, dass ich nicht sagen konn­te, ob ich ge­ra­de wirk­lich je­man­den ge­trof­fen oder nur ge­träumt hatte, jedes Mal, nach­dem ich vom Schlaf er­wacht war, mit mei­nen Bei­nen um einen Ast ge­schlun­gen, um zu ver­hin­dern, her­un­ter­zu­fal­len. Zwei Stim­men waren die her­vor­ste­chends­ten: die pes­si­mis­ti­sche und die op­ti­mis­ti­sche. Ers­te­re at­ta­ckier­te den eher un­be­hol­fe­nen Ein­falls­reich­tum der letz­te­ren mit Ar­gu­men­ten, die ich nie ver­ges­sen werde. Die Que­re­len han­del­ten über­wie­gend von dem Ver­hält­nis zwi­schen Mensch und Natur. Die op­ti­mis­ti­sche Stim­me in­ter­pre­tier­te die For­men im Wald (Zwei­ge von Bäu­men, Pfade zwi­schen den Bü­schen etc.) als Zei­chen eines Aus­wegs und war er­mun­tert. Die pes­si­mis­ti­sche spot­te­te über diese be­ru­hi­gen­de Ver­mensch­li­chung und be­haup­te­te, dass ein Wald keine Zei­chen gibt, son­dern nur ist. Doch die op­ti­mis­ti­sche Stim­me gab nicht auf; im Ge­gen­zug dazu kre­ierte sie ihre ei­ge­nen Gott­hei­ten als Rei­se­be­glei­te­rin­nen. Es war, als ich auf einem stei­len Fel­sen dut­zen­de Meter hin­a­b­rutsch­te, da ich mich wirk­lich „füg­sam wie eine Faser im Uni­ver­sum fühl­te“. Aus dem Nichts her­aus rea­li­sier­te ich, dass Frei­heit oft­mals nichts an­de­res ist als eine Frage der… Ba­lan­ce. So viele Be­geh­ren, Pro­jek­te und Dis­kus­sio­nen über die Kraft des In­di­vi­du­ums, das ei­ge­ne Leben zu ver­än­dern: ein paar Zen­ti­me­ter mehr und alles wäre vor­bei. Ich be­reu­te es zu­tiefst, dass ich nicht in der Lage sein werde, der Welt ir­gend­et­was über die zer­brech­li­chen Gren­zen zu schrei­ben, wel­che ich noch immer zö­ger­lich er­fuhr. Ich bekam die feste Über­zeu­gung, Worte seien Me­di­zin (die Grie­chen be­trach­te­ten sie so­wohl als Me­di­zin als auch als Gift), wel­che uns ab­hält vom ab­so­lu­ten An­de­ren der Natur. Die wilde Natur ist nicht so, wie sie in pri­mi­ti­vis­ti­schen Schrif­ten und Zei­tun­gen dar­ge­stellt wird; im Ge­gen­teil, sie ist ein Furcht ein­flö­ßen­der Ort, denn sie ist „sprach­los“ – ein Ort der to­ta­len Kom­mu­ni­on und gleich­zei­tig der ab­so­lu­ten Ein­sam­keit. Die ex­tre­me Ein­öde ist auch Me­di­zin, denn sie ist eine Be­zie­hung, in der An­de­re in Form von Ab­we­sen­heit teil­neh­men. Wäh­rend ich auf den Fel­sen in die­sem aus­ge­trock­ne­ten Fluss­bett lag, dach­te ich daran, was wohl meine Ge­fähr­tin­nen über die­sen Um­stand sagen wür­den und muss­te herz­lich la­chen. Meine Ge­fähr­tin­nen…

Worte als Me­di­zin. Ich er­fuhr meine in­ten­sivs­te Be­zie­hung zur Theo­rie in der Nacht, in der ich ein Feuer mit einem Buch von Hegel ent­fa­chen muss­te. Ich kann weder das Zö­gern be­schrei­ben, mit wel­chem ich die Sei­ten her­aus­riss, noch die Ge­dan­ken am Feuer oder die Er­hel­lung, wel­che die Dia­lek­ti­ken He­gels in die­ser un­ge­wöhn­li­chen Nut­zung brach­ten. Ich ver­stand, dass He­ra­klit der Dunk­le nicht zu­fäl­lig in den Flam­men eines Feu­ers den emp­find­sa­men Aus­druck der Dinge auf dem Wer­de­gang zur Rea­li­tät sah.

Kafka sagt, die Logik könne nicht jenen wi­der­ste­hen, wel­che am Leben blei­ben wol­len. Ich ent­schied, dass jedes Mal, wenn ich mit Ge­wiss­heit über den Kampf und ra­di­ka­le Pro­jek­te reden würde, ich mich immer daran er­in­nern müsse, was ich auf die­sem Fel­sen fühl­te.

Das Leben und seine not­wen­di­gen Il­lu­sio­nen haben mich immer vom Be­wusst­sein über meine „Füg­sam­keit“ ge­gen­über der Welt ab­ge­hal­ten. Tat­säch­lich hätte ich nichts tun kön­nen, wäre die­ses Be­wusst­sein am Leben ge­we­sen. Was kön­nen wir zer­stö­ren und was kön­nen wir auf­bau­en, wenn wir nicht wis­sen, ob wir im nächs­ten Mo­ment noch da sein wer­den? Als ich im Ge­fäng­nis oder in Ge­fan­gen­schaft war ver­sprach ich mir selbst eine Menge Dinge zu tun, wenn ich wie­der drau­ßen bin. Na­tür­lich kam es nicht so. Das Leben ab­sor­biert dich und lässt dich die Schlä­ge ver­ges­sen, die du fron­tal ab­be­kommst. Doch ich rea­li­sie­re, dass diese ge­wis­se Leere, die ich in jenem Wald ver­spürt habe, mich wie ein Klang durch­dringt, wel­cher im Ge­hei­men jedes mei­ner Be­kennt­nis­se be­glei­tet. Wenn ich die­sem stei­ner­nen Dämon öfter zu­hö­ren müss­te, würde ich weit­aus we­ni­ger reden.

Auf die­sen blan­ken Fel­sen, wo Adler ihre Nes­ter bauen, ahnte ich, wie stark der Ge­dan­ke an Selbst­mord sein kann. Die Idee, dass du der Welt je­der­zeit Le­be­wohl sagen kannst, macht das Leben wun­der­voll. „Tu es, trau dich, nie­mand kann dich zum Leben ver­pflich­ten“: Durch die starr­köp­fi­ge Stim­me die­ses Dä­mons kön­nen wir uns jedem Feind ge­gen­über­stel­len. In der Tat, jede Er­pres­sung kol­la­biert am Kern­punkt die­ses Be­wusst­seins. Am Rande einer ver­füh­re­ri­schen Klip­pe, in der kom­plet­ten Ein­sam­keit, wo Fik­ti­on ver­schwin­det und nur was zählt wirk­lich zählt, traf ich die un­ein­ge­schränk­te Liebe.

In an­de­ren Wor­ten, der Op­ti­mist setzt sich durch mit einer Logik, wel­che die Logik nicht kennt. Als mir eines Nachts im Regen eine kos­mi­sche Stim­me (mein per­sön­li­cher Me­phis­to) einen Pakt vor­schlug, fühl­te ich eine un­bän­di­ge Eu­pho­rie: „Wenn du deine Ideen auf­gibst, werde ich dich aus die­sem Wald brin­gen“. Ich sage Eu­pho­rie, denn es ist was ich fühl­te, als ich die­ses An­ge­bot ab­lehn­te. Auch im Deli­ri­um immer noch rhe­to­risch, wer­den ei­ni­ge sagen. Letzt­end­lich geben selbst un­se­re Hal­lu­zi­na­tio­nen Preis, wer wir sind.

Es mag selt­sam wir­ken, doch meine Er­fah­rung als je­mand im Ver­bor­ge­nen ist hier­in ent­hal­ten, in der ge­ra­de be­schrie­be­nen Er­fah­rung. Der Rest ist eine Reihe an De­tails. So rich­tig kön­nen wir uns nur an das er­in­nern, was uns er­schüt­tert.

Als ich mei­nen un­ter­schied­li­chen Ichs im Wald beim Strei­ten zu­hör­te, ver­stand ich die Be­deu­tung der Af­fir­ma­ti­on Nietz­sches, dass unser Leben nur ein Raum ist, durch den un­zäh­li­ge Wesen im Kon­flikt rei­sen. Da­nach habe ich oft über das Kon­zept der Iden­ti­tät nach­ge­dacht.

Was uns wirk­lich Angst macht ist die feh­len­de Kon­trol­le dar­über, was uns um­gibt. Ich bin mir si­cher, dass die we­ni­gen Tage, die ich im Wald ver­brach­te, mich mehr be­ein­fluss­ten als die Mo­na­te im Ge­fäng­nis. Im Ge­fäng­nis ist alles, oder zu­min­dest scheint es so, unter Kon­trol­le, zu­min­dest war es so unter den Be­din­gun­gen die ich dort ken­nen­lern­te. Na­tür­lich ver­lierst du deine Frei­heit und du hasst deine Wär­te­rin­nen; doch alles wie­der­holt sich in der glei­chen Art und Weise, du auf der einen Seite und sie auf der an­de­ren und du kannst dein mi­ni­ma­les Pro­jekt durch­zie­hen. Mit an­de­ren Wor­ten, es gibt einen Code. Es gibt einen gro­ßen Un­ter­schied zwi­schen dem Ge­fan­ge­nen, der die­sen Code in sich auf­nimmt, bis er zum Teil die­ser to­ta­len In­sti­tu­ti­on wird und jenem, der ihn nicht ak­zep­tie­ren kann. Doch selbst der wil­lens­stärks­te Re­bell be­nutzt be­stimm­te Codes. Im Ge­gen­satz dazu kol­la­bie­ren alle Codes zu be­stimm­ten Er­eig­nis­sen, denn nichts, nicht ein­mal das Feh­len der Frei­heit, ist ge­wiss. Ich denke, das Feh­len jeg­li­cher Ga­ran­tie kann zum Wahn­sinn füh­ren. So ge­se­hen habe ich bes­ser ver­stan­den, was eine ra­di­ka­le Kri­tik an der Psych­ia­trie ist.

Oft bin ich plötz­lich in der Angst auf­ge­wacht, kein Was­ser zu haben (und in sol­chen Fäl­len war es immer eine große Er­leich­te­rung, eine Fla­sche neben mei­nem Bett zu fin­den); im Ge­gen­satz dazu habe ich fast nie vom Ge­fäng­nis ge­träumt.

Was das Kon­zept der Iden­ti­tät an­be­langt, so sind die Um­stän­de des Le­bens in der Klan­des­t­i­ni­tät ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Ex­pe­ri­ment am Sub­jekt, wel­ches weit­aus nütz­li­cher als die meis­ten phi­lo­so­phi­schen Bü­cher sein kann. Co­eur­de­roy mein­te, dass es uns mög­lich sein müsse, un­se­ren Namen jeden Tag zu än­dern. Das sagte ich auch den Bul­len im Ver­hör und fügte noch hinzu, dass das Kon­zept der Iden­ti­tät au­to­ri­tär ist. Die nicht ganz so ent­spann­te Re­ak­ti­on der Bul­len zeig­te mir deut­lich, wie Iden­ti­täts­ka­te­go­ri­en zen­tra­le Punk­te von Herr­schaft sind.

Was ist Iden­ti­tät?

Ein be­stimm­tes Bild, er­baut mit einer Reihe von Ele­men­ten, kommt in un­se­ren täg­li­chen Be­zie­hun­gen ins Spiel. Un­se­re Ver­gan­gen­heit und was an­de­re über uns wis­sen wer­den ziem­lich ge­wöhn­li­che As­pek­te, denen wir für ge­wöhn­lich nicht viel Auf­merk­sam­keit schen­ken. Wenn wir mit je­man­dem intim wer­den, er­öff­nen wir ihm oder ihr ge­gen­über jenes, was uns am wert­volls­ten ist, Liebe und in sich selbst Ge­schich­ten be­inhal­ten­de Ideen. Eine klan­des­ti­ne Per­son hin­ge­gen, muss be­stän­dig die ei­ge­ne Iden­ti­tät kre­ieren, wel­che dazu auch noch stim­mig sein muss, um nicht auf­zu­fal­len. Sich an einen Namen zu ge­wöh­nen, der nicht der deine ist, ist eine sehr spe­zi­el­le Er­fah­rung und mag für ei­ni­ge un­mög­lich sein (viel­leicht weil es so ähn­lich ist zum „Ich ist ein an­de­rer“ von einem Klan­des­ti­nen der Dich­tung, ge­nannt Rim­baud). Ein in­ter­es­san­ter und nütz­li­cher As­pekt die­ser Be­din­gung ist, dass sie dir dabei hilft, grund­le­gen­de Fä­hig­keit zu er­ler­nen, bspw. über dich selbst mit ex­tre­mer Auf­rich­tig­keit zu reden, ohne ir­gend­ein De­tail über dein Leben zu ver­lie­ren. Es ist nicht un­be­dingt eine Fä­hig­keit zur Abs­trak­ti­on, son­dern eher die ei­ge­nen Er­fah­run­gen in eine De­stil­la­ti­on von Ge­dan­ken und Emo­tio­nen zu ver­wan­deln. Ein an­de­res Kon­zept der Iden­ti­tät ist viel­leicht das, was von die­sem De­stil­la­ti­ons­pro­zess üb­rig­bleibt. Im Ver­lauf die­ser in­ne­ren Al­che­mie musst du etwas Wich­ti­ges weg­wer­fen und das kann schmerz­voll sein. Zum Bei­spiel war es mei­nem „Cha­rak­ter“ nach schwer für mich, den öf­fent­li­chen Teil mei­ner sub­ver­si­ven Ak­ti­vi­tät auf­zu­ge­ben. (Ich be­nut­ze die An­füh­rungs­zei­chen, da ich einen Satz in Paul Valérys No­ti­zen nicht ver­ges­sen kann, nach dem er be­haup­tet, dass das, was wir Cha­rak­ter nen­nen, etwas tem­po­rä­res ist.) Si­cher, ein Ge­fähr­te auf der Flucht denkt immer an seine ri­si­ko­rei­che Iden­ti­tät und wie es mög­lich wäre, an den Pro­jek­ten an­de­rer Ge­fähr­ten teil­zu­ha­ben (den­ken sie an mich?). Zu­sam­men­halt, wel­cher in so­zia­len Be­zie­hun­gen eine Ga­ran­tie für „Ord­nungs­mä­ßig­keit“ und Schutz vor Angst und Chaos ist und wel­cher oft­mals weit­aus we­ni­ger of­fen­sicht­lich ist als es schei­nen mag, be­nö­tigt in die­sem Fall eine sehr be­son­de­re Di­men­si­on, in der die Span­nung zwi­schen Theo­rie und Pra­xis auf einer eher in­ne­ren Ebene liegt. Die­ser Zu­sam­men­halt kann manch­mal durch die Zah­lung eines hohen Prei­ses in der Sphä­re der Liebe und Zu­wen­dung er­reicht wer­den. Ich ent­schied mich, nicht zu dras­tisch zu sein, als ich in den Un­ter­grund muss­te (wie mit dem Be­such der Po­li­zei ein paar Mo­na­te spä­ter be­wie­sen…). Doch ich kann mir vor­stel­len, wie man sich selbst mit­tels an­dau­ern­der Acht­sam­keit öff­nen und schlie­ßen kann. Ich ver­ste­he den Ge­fähr­ten, der sagt er hätte wahr­haf­te Frei­heit nur im Klan­des­ti­nen ge­kannt, als er in­ko­gni­to durch Län­der und Leute reis­te. Ich hatte eine klei­ne Kost­pro­be davon eines Nachts auf einem Hügel, wäh­rend ich aus der Dis­tanz der Flucht auf die Lich­ter der Stadt blick­te. Die Ver­bann­ten kön­nen ihre Si­tua­ti­on wen­den und Ban­di­ten wer­den.

Die Auf­merk­sam­keit (in Bezug auf das Ter­ri­to­ri­um, in dem man sich be­wegt, das Aus­se­hen und Ver­hal­ten sowie un­er­wünsch­ter Kon­takt mit Ge­fähr­tin­nen) kann nicht im­pro­vi­siert wer­den, denn es er­for­dert die Zeit und En­er­gie. Doch an­de­re Ge­fähr­tin­nen mit mehr Er­fah­rung als ich sie habe kön­nen dies weit­aus bes­ser er­klä­ren.

Das Leben im Ver­bor­ge­nen und die Ge­fan­gen­schaft im Knast sind sehr un­ter­schied­li­che Be­din­gun­gen, auch was die Wahr­neh­mung der ei­ge­nen Iden­ti­tät an­be­langt. Ich er­in­ne­re mich an das Ge­fühl einer tie­fen und fast eu­pho­ri­schen Freu­de, als ich von mei­ner Zelle aus an­fing, Ge­fähr­tin­nen, mit denen ich seit Lan­gem nicht in Kon­takt war, zu schrei­ben. Ich schrieb in „mei­nem“ Namen, ich er­hielt Brie­fe und er­zähl­te von ver­gan­ge­nen Er­fah­run­gen und zu­künf­ti­gen Pro­jek­ten: All dies er­füll­te mein Herz und meine Tage mit Freu­de. Ge­fähr­tin­nen reden über Ge­fan­ge­ne, or­ga­ni­sie­ren für sie So­li­da­ri­täts­in­itia­ti­ven und ver­öf­fent­li­chen deren Ideen. Die im Ver­bor­ge­nen Le­ben­den sind sogar noch mehr iso­liert. Ihr Zu­sam­men­halt ist stolz und schwie­rig, da sie kei­ner­lei ex­ter­nen Ein­blick haben kön­nen. Mögen die Um­her­strei­fen­den er­in­nert sein.

Das Leben im Ver­bor­ge­nen ist eine Er­fah­rung von star­ken Be­zie­hun­gen und Ver­bün­de­ten, doch auch gro­ßer Ein­sam­keit. Der Dämon der Nost­al­gie kommt dich häu­fig be­su­chen und bringt dir Er­in­ne­run­gen, die du schon be­gra­ben hat­test: eine ent­fern­te Freun­din aus der Kind­heit, der Ge­ruch eines La­dens, in den du als Kind häu­fig ge­gan­gen bist, ein Mäd­chen, in das du als Teen­age­rin ver­liebt warst oder viel­leicht die wun­der­schö­ne Frau, die am Tag zuvor an dir vor­bei lief; dann Worte, Lie­der, Orte, alles scheint sich gegen dich zu ver­schwö­ren, um dich in Nost­al­gie schwel­gen zu las­sen. Nost­al­gie ist eine selt­sa­me Welt, in der selbst ein dum­mes Schla­ger­lied gut für eine An­ar­chis­tin klin­gen kann…

Jede kennt den Un­ter­schied zwi­schen Nost­al­gie und Trau­er. Ers­te­res ist ein ge­schwärz­ter Ein­druck, doch es ist ein Schwarz, das dir etwas gibt. Hast du je­mals be­merkt, dass düs­te­re Ge­stal­ten eine ver­stör­te und be­hut­sa­me Freund­lich­keit be­sit­zen? Sowie sie von der Nost­al­gie ihrer Ver­gan­gen­heit ein­ge­holt wer­den, ent­wi­ckeln sie eine be­stimm­te Sen­si­bi­li­tät für Un­be­kann­te, als ob sie die Leere mit einem Ver­spre­chen des Glücks fül­len wol­len. So ist mehr oder we­ni­ger das Leben im Ver­bor­ge­nen.

Der Lied­text von Ferré, den ich am An­fang zi­tiert habe, kommt mir ge­ra­de in den Sinn. Ver­rück­ter­wei­se fand ich ihn mit einem Filz­stift an eine Wand ge­schrie­ben. Es ist ei­gen­ar­tig, dass An­ar­chis­t_in­nen als nost­al­gi­sche Per­sön­lich­kei­ten dar­ge­stellt wer­den, oder? “Sie haben schwar­ze Fah­nen der Hoff­nung / und die Me­lan­cho­lie ist ihre Tanz­part­ne­rin“… Nun, ich denke das Leben im Ver­bor­ge­nen hat mich dies wer­den las­sen: mein un­be­grenz­ter Op­ti­mis­mus ist me­lan­cho­li­scher ge­wor­den, als ob von einer Gyp­sy-​Me­lo­die be­glei­tet.

Die Be­schrän­kung der Ak­ti­vi­tä­ten und Ges­ten nimmt aller Kri­tik zu­neh­mend die Of­fen­si­ve. Wir haben oft den Ein­druck, dass Reden sinn­los ist. Das Leben im Ver­steck­ten und die Ge­fan­gen­schaft im Knast waren aus die­sem Blick­win­kel be­trach­tet sehr un­ter­schied­li­che Er­fah­run­gen für mich. Im Ge­fäng­nis er­fuhr ich die Kraft der Worte. Mit den Wär­te­rin­nen, der Di­rek­to­rin und den An­ge­stell­ten in einer be­stimm­ten Art zu reden oder die Un­ter­hal­tun­gen mit den an­de­ren In­sas­sen wäh­rend der „So­zia­li­sie­rungs­zeit“ haben prak­ti­sche Aus­wir­kun­gen. Re­bel­li­sche Worte ver­lei­ten schnell zum Han­deln, darum sind sie ge­fürch­tet.

Wenn du dich ver­steckst, ist die Kraft der Worte manch­mal be­grenzt und das nicht nur auf­grund von Si­cher­heits­grün­den. Es kann pas­sie­ren, dass du zwei­mal nach­denkst, bevor du den Mund auf­machst, denn was du sagst kann ris­kie­ren, dass es so aus­sieht, als wür­dest du eine Lehr­stun­de geben, da es nicht in die Pra­xis um­ge­setzt wer­den kann (be­son­ders wenn an­de­re sich öf­fent­lich aus­drü­cken kön­nen, wäh­rend du das nicht kannst). Also ziehst du es vor, still zu blei­ben, es sei denn, du fin­dest eine neue Ver­bün­de­te in einem ge­mein­sa­men Pro­jekt. Letzt­end­lich bist du sogar frei­er im Han­deln denn ge­gen­über dei­nen Fein­den hast du einen Vor­teil: Sie wis­sen nicht, wo du bist…

Eine Form der Be­stra­fung wird in ei­ni­gen der noch exis­tie­ren­den sog. „pri­mi­ti­ven“ Ge­mein­den prak­ti­ziert und sie wird als die här­tes­te an­ge­se­hen. Es ist weder phy­si­sche Fol­ter, noch Ein­sper­ren oder Ver­ban­nung. Wenn je­mand ein be­son­ders erns­tes und ta­delns­wer­tes Ver­bre­chen be­geht, re­agiert die Ge­mein­de indem sie so tut, als würde diese Per­son nicht exis­tie­ren. Sie schau­en die Per­son nicht an, reden nicht mit ihr oder über sie und ma­chen sie so für eine Weile un­sicht­bar. Es sei eine un­er­träg­li­che Be­stra­fung. Un­se­re In­di­vi­dua­li­tät wird durch ein kon­ti­nu­ier­li­ches Wech­sel­spiel der Kom­mu­ni­ka­ti­on und der ge­gen­sei­ti­gen An­er­ken­nung auf­ge­baut und voll­endet. Wir sind ein­an­der un­sicht­bar, wenn alle Be­tei­lig­ten sich al­lein auf­grund ihrer Prä­senz schul­dig füh­len. Die Be­schrän­kung, wel­che uns davon ab­hält, un­se­re ei­ge­nen Bünde zu eta­blie­ren und auf­rich­tig ohne Me­dia­ti­on zu reden, ver­setzt uns in Un­an­nehm­lich­kei­ten und An­ony­mi­tät.

Dies äh­nelt stark der Be­din­gun­gen, wel­che Mil­lio­nen von Klan­des­ti­nen welt­weit er­fah­ren, über­wie­gend die Ge­flüch­te­ten des ka­pi­ta­lis­ti­schen Mas­sa­kers. Sie sind un­sicht­bar und dazu ge­zwun­gen, wie Schat­ten ent­lang der Wände der Me­tro­po­len zu hu­schen und die Schuld der Armut und des Fremdseins ab­zu­bü­ßen. Klan­des­ti­ne ver­ängs­ti­gen uns, denn durch sie rea­li­sie­ren wir un­se­re ei­ge­ne Be­din­gung als pre­kär und ent­frem­det; einem gi­gan­ti­schen pro­duk­ti­ven und tech­no­lo­gi­sier­ten Ap­pa­rat jen­seits un­se­rer Kon­trol­le un­ter­ge­ord­net; jeg­li­che Be­deu­tung des­sen, was uns ent­rinnt durch immer wie­der­keh­ren­de ma­te­ri­el­le Be­dürf­nis­se auf­ge­scho­ben.

Ich bin froh, dass die­ses Büch­lein auch die Er­fah­run­gen eines im Ver­bor­ge­nen le­ben­den Men­schen dar­stellt, denen an­de­re Ur­sa­chen zu Grun­de lie­gen als die vie­ler mei­ner Ge­fähr­tin­nen. Das be­deu­tet nicht, dass wir Un­ter­schie­de aus­blen­den sol­len, son­dern dass wir eine ra­di­ka­le Kri­tik an Gren­zen und Pa­pie­ren von einem so­zia­len Blick­win­kel aus for­mu­lie­ren soll­ten. Lei­der war die Idee der Zer­set­zung von Herr­schafts­ka­te­go­ri­en (Ar­bei­te­rin / Ar­beits­lo­se, Staats­bür­ge­rin / Frem­de, legal / il­le­gal, un­schul­dig / schul­dig) an­fäng­lich un­se­re Idee und nicht wirk­lich an­ge­sagt. Ka­te­go­ri­en müs­sen im Kampf zer­stört wer­den; es reicht nicht aus ein­fach nur zu be­haup­ten, sie wür­den nicht exis­tie­ren. Die Be­din­gun­gen von Mil­lio­nen von legal nicht-​exis­ten­ten Men­schen könn­ten ein schmerz­vol­ler aber gra­vie­ren­der An­lass sein, alle kol­lek­ti­ven und au­to­ri­tä­ren Iden­ti­tä­ten zu zer­stö­ren. Jene Un­sicht­ba­ren, die der Worte und der Be­zie­hun­gen be­raubt wor­den sind, su­chen oft nach einer Art kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät als Form der Ver­tei­di­gung. Darum exis­tiert Fun­da­men­ta­lis­mus, ein spe­ku­la­ti­ves Pro­dukt der Ne­ga­ti­on von Un­ter­schie­den durch den Ka­pi­ta­lis­mus. Eine Dis­kus­si­on über die so­zia­len Ur­sa­chen ist drin­gend not­wen­dig, denn of­fen­sicht­lich rei­chen in­tel­lek­tu­el­le Ar­gu­men­ta­tio­nen zur Nicht­exis­tenz Got­tes nicht aus, um eine prak­ti­sche Kri­tik der Re­li­gi­on her­vor­zu­brin­gen. Der Be­darf nach Ge­mein­schaf­ten in einer Welt, in der die ein­zi­ge Ge­mein­schaft die der zu kon­su­mie­ren­den Waren sind, wird stär­ker und stär­ker und wird schnell von na­tio­na­lis­ti­schen und fun­da­men­ta­lis­ti­schen Pla­gen ma­ni­pu­liert. Die Zahl der Un­sicht­ba­ren, wel­che von Hass und Gleich­gül­tig­keit um­ringt sind, wel­che einem Ul­ti­ma­tum ge­gen­über­ste­hen, nimmt ste­tig zu: Sie wer­den ent­we­der als Sub­jekt un­ter­wor­fen und ge­zwun­gen, sich zu in­te­grie­ren oder sie wer­den ab­ge­scho­ben. Ge­mein­sa­me Grün­de für die Re­bel­li­on, ge­schaf­fen durch un­mit­tel­ba­re Be­dürf­nis­se zum Vor­an­schrei­ten, sind weit­aus mehr als nur So­li­da­ri­tät. Un­se­re äu­ßers­te Frei­heit steht auf dem Spiel, denn die Mög­lich­keit eines so­zia­len Krie­ges kann schnell zur Ge­wiss­heit eines „Ras­sen­krie­ges“ wer­den. In­ner­halb des über­wäl­ti­gen­den Chaos der Spra­chen und Kul­tu­ren müs­sen neue De­ser­tio­nen und Bünd­nis­se er­fah­ren wer­den…

Wie ist es mög­lich, der Macht und ihrer Wäch­te­rin­nen ge­gen­über un­sicht­bar zu sein – in an­de­ren Wor­ten, wie ist es mög­lich, der Iden­ti­fi­zie­rung zu trot­zen – und gleich­zei­tig so­zi­al sicht­bar zu sein? Ich denke, dies ist das Haupt­pro­blem, das alle klan­des­ti­nen Ge­fähr­tin­nen be­trifft. Ich denke auch, dass wir über un­se­re umher wan­dern­den Ge­fähr­tin­nen reden kön­nen, wenn wir damit be­gin­nen auf gro­ßer Ebene um­her­zu­strei­fen, so­dass un­se­re Ge­fähr­tin­nen we­ni­ger fern sind.