Ich bin überzeugt, dass eine revolutionäre Herausforderung an die gegenwärtige soziale Ordnung notwendigerweise auch eine Herausforderung an die letzten 10 000 Jahre der institutionellen Entwicklung sein muss, welche sie erschaffen hat. Kurz gesagt, revolutionäre Kritik muss auf die Zivilisation selbst abzielen. Aber was heißt das genau?
Auf allen Seiten der sogenannten Debatte über Zivilisation unter Anarchistinnen, scheint Missverständnis die einzige Konstante zu sein. Das ist nicht überraschend. Diese Konzepte sind kompliziert, besonders im Rahmen ihrer praktischen Anwendung im sozialen Kampf. Um mehr Klarheit zu gewinnen, ist es meiner Meinung nach notwendig ein paar Fragen zu untersuchen: Was ist revolutionäre Kritik? Was ist Zivilisation? Was bedeutet revolutionäre Zivilisationskritik im Bereich der Ideen? Was würde eine revolutionäre Zivilisationskritik auf praktischer Ebene bedeuten? Jede einzelne dieser Fragen eröffnet tausend weitere, besonders wenn wir versuchen diese auf eine revolutionäre Praxis zu beziehen. Aber das sollte nur diejenigen beängstigen die ihr Vertrauen in eine Ideologie gesetzt und sich selbst in einer, angeblich „revolutionären“, Identität eingeschlossen haben. Für den Rest von uns sollte dieses Infragestellen eine feine Herausforderung sein, ein Platz auf dem wir uns selbst aufs Spiel setzen.
Was ist eine revolutionäre Kritik?
Revolutionäre Kritik ist Kritik, die darauf abzielt, die derzeitige Gesellschaft in ihren Wurzeln herauszufordern, um einen Bruch mit dem Bestehendem zu erschaffen und eine radikale soziale Transformation herbeizuführen. Was könnte „revolutionär“ sonst bedeuteten? Jedoch gibt es hierfür viele Implikationen.
Zu aller erst, ist revolutionäre Kritik praktisch. Sie sucht nach einer Methode um sich selbst in dieser Welt zu entwickeln, um die heutige soziale Ordnung praktisch herauszufordern. Mit anderen Worten, sie ist Teil eines realen Kampfes gegen die Welt die existiert.
Aus diesem Grund beginnt sie auch mit der Gegenwart. Eine praktische, revolutionäre Herausforderung an die Gegenwart wird von der Vergangenheit und der Zukunft Gebrauch machen, jedoch nicht durch sie definiert werden. Sie sind eher Werkzeuge, die im Angriff gegen die herrschende soziale Ordnung zu nutzen sind. Revolutionäre Kritik ist eine Praxis, die danach strebt alles unmittelbar hier und jetzt zu begreifen. Sie beinhaltet eine kontinuierliche, scharfsinnige Untersuchung des Staates, der kapitalistischen sozialen Beziehungen, des Klassenkampfes und der technologischen Entwicklung, wie wir ihnen heute begegnen.
Da revolutionäre Kritik auf einen Bruch mit der herrschenden Ordnung abzielt, beginnt sie mit einem Angriff auf all die Institutionen dieser Gesellschaft. Sie untersucht ihre fundamentalen Beziehungen zueinander und was diese Beziehungen bedeuten. Somit ist sie nicht so sehr an den Exzessen dieser Institutionen interessiert und auch nicht daran, dass sie den Werten, die sie proklamieren, widersprechen mögen, sondern daran, dass sie, sogar wenn sie ihren proklamierten Werten perfekt gerecht würden, darin scheitern die Grundbedürfnisse und die Wünsche der Menschen zu befriedigen. Diese Gesellschaft ist fundamental gegen das Leben, gegen die Menschen und gegen das Individuum, einfach weil ihre eigene Reproduktion die Unterwerfung der lebenden menschlichen Individuen unter ihre Bedürfnisse voraussetzt. Revolutionäre Kritik beginnt mit dieser Erkenntnis.
Revolutionäre Kritik weist außerdem moralische Kritik absolut zurück. Das könnte der wichtigste Aspekt im Rahmen meines Arguments sein. Revolution ist in der Praxis amoralisch. Selbst wenn von Zeit zu Zeit, Manche in unseren Kämpfen die Rhetorik von „Gerechtigkeit“ und „ Rechten“ benutzen, hat unser revolutionärer Kampf nichts mit Gerechtigkeit oder Rechten oder irgendeinem Wert der außerhalb von uns selbst steht zu tun. Wir wollen diese Realität umwälzen, nicht weil sie ungerecht, böse oder gar „unfrei“ ist, sondern weil wir unsere Leben zurück haben wollen! Moral gehört zu dieser sozialen Ordnung. Sie wurde wieder und wieder benutzt um uns auf unserem Platz zu halten – immer abgesichert durch die Waffengewalt. Die Moral dient der Erhaltung des Bestehenden sehr gut, weil ihr letztes Wort immer der Zwang ist. Da wir das Bestehende zerstören wollen, müssen wir auch die Moral zerstören – besonders jene, die in uns existiert – damit wir diese Gesellschaft zwanglos angreifen können.
Zur selben Zeit weist revolutionäre Kritik Prinzipien nicht zurück1. Eher hilft sie uns, uns für eine prinzipielle Herangehensweise festzulegen, um konkret in unseren täglichen Leben gegen die herrschende Ordnung zu handeln. Der Mangel an revolutionärer Kritik kann dazu führen, bestimmte Erfahrungen der Unterdrückung, Ausbeutung und Herrschaft als isolierte Einzelfälle aufzufassen und dafür eine unmittelbare Lösung mit allen erforderlichen Mitteln zu suchen. Eine revolutionäre Kritik kann die Querverbindungen dieser Erfahrungen entlarven und aufzeigen wie die „Lösungen“ die von den Institutionen angeboten werden nur dazu dienen ihre Macht über unsere Leben auszudehnen. Wenn wir die Entscheidung machen unsere Leben durch die Revolte gegen die soziale Ordnung wieder anzueignen, dann wählen wir einen Weg der Welt zu begegnen. Für uns macht es keinen Sinn andere Mittel zu verwenden, als die, die den Zweck verkörpern uns unsere Leben wieder anzueignen. Das trifft auf einer persönlichen Eben und auf der Ebene der sozialen Revolution zu. Jedes Mal wenn wir einen Kompromiss mit der Macht eingehen ist dieser Teil unseres Lebens für uns verloren. Es gibt so viele Aspekte unseres Lebens, bei denen wir dazu gezwungen sind, gegen unseren Willen einen Kompromiss einzugehen. In den Kampffeldern, wo wir eine Wahl haben, wird uns eine anarchistische revolutionäre Kritik dazu bringen den Kompromiss zu verweigern und unsere Autonomie zu bewahren.
Was ist Zivilisation?
„Zivilisation“ ist ein verwirrendes Wort. Frühe europäische Eroberer assoziierten oft das, was „gut“ war mit der Zivilisation. Folglich würden sie, wenn sie großmütigen und aufrichtigen nicht-zivilisierten Menschen begegneten, sie hin und wieder als „zivilisierter“ als die Europäerinnen beschreiben. Heute wird die Idee der Zivilisation häufig mit gutem Wein, schönen menschlichen Erzeugnissen und feinen Geschmäckern assoziiert, aber in Wirklichkeit sind die Charakteristiken die von allen Zivilisationen geteilt werden, weit weniger angenehm: Herrschaft, Genozid und Umweltzerstörung um nur ein paar zu nennen.
Ein weiter Punkt der Verwirrung ist der, dass viele Menschen „Zivilisation“ als eine einzelne Entität begreifen, welche sich über die Zeit entwickelt. Dieser Auffassung liegt der Mythos des Fortschritts zu Grunde, durch welchen die moderne westliche Zivilisation, die jetzt die Welt dominiert, gerechtfertigt und idealisiert wird. Dieser Mythos nimmt an, dass sich die Menschheit entlang eines einzelnen, ziemlich geraden Pfades entwickelt hat, welcher dorthin führt, wo wir uns befinden. Tatsächlich jedoch entstanden Zivilisationen an mehreren verschiedenen Plätzen, ohne Verbindungen zueinander und ohne nur einem einzigen, gradlinigem Weg zu folgen. Die westliche Zivilisation, wird oft auf den „Fruchtbaren Halbmond“2 zurückgeführt, welcher auch als „Wiege der Zivilisation“ bezeichnet wird. Jedoch haben die chinesische und die japanische Zivilisation sowie die der Inkas, Aztekinnen und Mayas, um ein paar zu nennen, keine Verbindung zu dieser „Wiege“. Der Aufstieg der westlichen Zivilisation war kein sanfter Pfad. Eher ist er das kreuzen, konvergieren und wieder auseinanderlaufen bestimmter Pfade3, manchmal durch den Handel, sehr viel öfters aber durch Konflikte. Folglich gab es im Laufe der Geschichte mehrere Zivilisationen. Eine Konvergenz aus einer Anzahl historischer Faktoren machte es der europäischen Zivilisation möglich ihre Eroberung auszuführen, welche sich heute über den ganzen Globus ausgebreitet hat. Jedoch ist die Idee einer einzelnen Zivilisation, welche sich entlang eines einzelnen Weges entwickelt hat, Teil der Ideologie des Fortschritts und eine revolutionäre Zivilisationskritik muss vorsichtig sein um diese Falle zu vermeiden, ansonsten kann dies schnell zu einer Perspektive führen, die einfach eine Umkehrung des Fortschrittskonzeptes ist, anstatt eine Zurückweisung dieses Mythos. So eine Umkehrung kann nur zu einem Aufruf, zur Rückkehr an einen imaginierten Anfang führen, welcher an sich schon ein Mythos ist. Eine revolutionäre Zivilisationskritik muss die der Fortschrittsidee innewohnende Mystifizierung zurückweisen und nicht einen Gegen-Mythos, basierend auf einer moralischen Verurteilung des Fortschritts, erschaffen.
Obwohl die Idee einer einzelnen Zivilisation falsch ist, gibt es einige Grundcharakterzüge welche alle Zivilisationen geteilt haben. Diese können als definierende Qualitäten von Zivilisation verstanden werden. Sie können Grundverständnisse liefern, die nützlich sind um klarer zu machen was eine revolutionäre Zivilisationskritik bedeuten könnte.
Zivilisation kommt von dem lateinischen Wort „civis“, was Stadtbewohner bedeutet. Demnach ist Zivilisation eine Art zu Leben, die auf dem Bewohnen von Städten basiert – auf dem Bewohnen von Gebieten mit konzentrierter menschlicher Bevölkerung, getrennt von den Gebieten, von denen diese Bevölkerung ihre Versorgung bezieht. Eine revolutionäre Zivilisationskritik würde folglich die sozialen Beziehungen untersuchen wollen die Städte erschaffen und die durch Städte erschaffen werden.
Aber die Existenz dessen, was als Stadt in Erscheinung tritt, ist, in sich selbst, nicht genug um Zivilisation zu definieren. Lasst uns also überlegen was geschah als die ersten Zivilisationen aufkamen. Es wird allgemein zugestimmt, dass sich die ersten Zivilisationen vor acht- bis zehntausend Jahren zu entwickeln begannen. Aber was begann sich tatsächlich zu entwickeln? Die Beweise, die wir haben, zeigen, dass bestimmte Spezialisierungen begannen sich in eine Anzahl von ineinander greifenden sozialen Institutionen zu kristallisiern: dem Staat, dem Eigentum, der Familie, der Religion, dem Gesetz, der Arbeit (als eine vom Leben getrennte Tätigkeit), etc. Dieser Prozess fand statt durch die Entfremdung der Leute von ihrer Fähigkeit ihr eigenes Leben individuell und kollektiv nach ihrem eigenen Willen zu erschaffen. Diese entfremdete Kreativität kristallisierte sich als konzentrierte Macht heraus und Reichtum zentrierte sich in den Institutionen der Gesellschaft. Basierend auf der Enteignung der großen Mehrheit, sind diese Institutionen die Repräsentationen der Klassenbeziehungen. Mit dem Aufkommen dieses institutionellen Rahmenwerks hörte die Gesellschaft auf ein Netz von sozialen Beziehungen zwischen Individuen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Verlangen zu sein und wurde stattdessen zu einem Netzwerk determinierter, institutionalisierter Beziehungen, das über den Menschen steht und in welches sie passen müssen. Somit wurden nicht mehr länger bewusst gemeinsam Techniken entwickelt, die dazu dienen die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Stattdessen werden technologische Systeme mit dem Ziel entwickelt, die institutionalisierte soziale Ordnung zu reproduzieren, die selbst eine bürokratische Technologie ist um soziale Beziehungen zu mediieren. Die Bedürfnisse und Wünsche der Individuen sind diesem Rahmenwerk untergeordnet, und die Individuen selbst werden zu Zahnrädern in der sozialen Maschine. Ihr überleben wird von dieser sozialen Maschine abhängig gemacht, eingeschlossen in einer fortlaufenden Knechtschaft, welche nur durch einen radikalen Bruch mit der sozialen Ordnung, einer destruktiven Umwälzung der existierenden sozialen Beziehungen gebrochen werden kann, die die Möglichkeit für die Erschaffung eines neuen gemeinsamen Lebens eröffnet.
Wenn ich von Zivilisation spreche, meine ich dieses Netzwerk von Institutionen welches unsere Leben beherrscht.
Was ist eine revolutionäre Zivilisationskritik im Bereich unserer Ideen?
Wenn Zivilisation das Netzwerk der Institutionen das unser Leben definiert und beherrscht ist, dann ist eine revolutionäre Zivilisationskritik, auf theoretischer Ebene, eine Untersuchung der Natur dieser Institutionen. Sie untersucht den Staat, die Ökonomie und die technologischen Systeme die sie entwickeln um unsere Leben zu kontrollieren. Sie untersucht die zunehmende Prekarität unserer Existenz auf allen Ebenen. Sie ist eine Klassenanalyse, die auf die Zerstörung dieser Gesellschaft abzielt, und somit ist ihre Basis zuerst und vor allem unser Leben, hier und jetzt in dieser Welt.
Unglücklicherweise scheitert vieles von dem, was heutzutage als Zivilisationskritik durchgeht daran revolutionär zu sein, weil es sich eine andere Basis wählt, als unsere eigene Konfrontation mit der sozialen Realität, die unsere Leben raubt, und unseren eigenen Verlangen unsere Leben zurückzunehmen. Diese anderen Basen scheinen ein Modell für eine zukünftige nicht-zivilisierte Gesellschaft oder für gegenwärtige Aktivität
Eine Verkaufsmasche für den Aufstand – Wolfi Landstreicher
Eine kritische Betrachtung von Der Kommende Aufstand
Einige Worte im Voraus uber die Motivation und Absichten
der Übersetzer…
Politik heißt nicht nur Delegation, Mediation und Spezialisierung, sondern auch Verleumdung, das Lästern und schlecht Reden auf Grund von Oberflächlichkeiten und die Kunst, die eigene Ideologie so auf dem Silbertablett präsentieren zu können um die Konkurrenz auszustechen. Nicht, dass wir Anhänger einer Ideologie oder eines fixen und statischen Theoriegebildes wären, im Gegenteil, aber für uns ist der Aufstand etwas dem Anarchismus inhärentes und diese Tatsache – ob sie uns nun zu Insurrektionalisten, aufständischen Anarchisten oder was auch immer macht, sei dahingestellt – und der Eindruck, dass sogar im deutschsprachigen Raum diese alte und verstaubt geglaubte Idee aufflammen zu scheint, dass es keine Trennung zwischen Theorie und Praxis gibt und der generalisierte und zerstörerische Aufstand, sowohl individuell als auch kollektiv, somit eine Notwendigkeit ist, wenn es einem darum geht jeglicher Autorität den Gar aus zu machen, scheint eine Menge Linker, Syndikalisten und andere Wichtigtuer derart zu provozieren und zu beunruhigen, dass ihre in Sicherheit geglaubten politischen Ideologien, Tempel und Milizen gefährdet sein könnten, dass sie sich von Zeit zu Zeit veranlasst sehen, ihre Reliquien gegen diese kruden Anarchisten, denen diese vermeidlich schändliche aufständische Neigung anhaftet, zu verteidigen. Eigentlich sollte man sich einen Dreck um diese mit dem Polieren ihrer linken Heiligtümer beschäftigen Messdiener scheren um sich erst gar nicht auf einen ihrer politischen Pseudodiskurse einzulassen, denen immer die oben aufgeführten Charakteristiken anhängen werden. Gerade da diese Diskurse meist im virtuellen Raum geführt werden und man schon von Glück sprechen kann, wenn es ein Papier gewordenes institutionalisiertes Organ einer Gewerkschaft oder ähnliches ist, was einem meint diesmal ans Bein pissen zu müssen. Es ist das gleiche ritualisierte Spektakel bzw. Debakel, dass sich auf den Rednerpulten der Parteikongresse abspielt: Die Diskreditierung der Konkurrenz und die Beweihräucherung des eigenen Programms. Da uns nichts daran gelegen ist die politische Macht zu erobern, uns demokratischer Mittel zu bedienen oder in irgendeinem Konkurrenzverhältnis zu diesem Sumpf zu stehen, machen wir uns nicht die unfruchtbare Mühe, uns auf ihre oberflächlichen Betrachtungen und kleinkrämerischen Hahnenkämpfe einzulassen. Wenn sie einen missverstehen wollen, werden sie einen immer missverstehen können.
Aber wir wollen nicht um den heißen Brei herum reden: Die anscheinend inzwischen verbreitete Annahme den Bestseller Der kommende Aufstand für eine, wenn nicht die, ideologische Grundlage des aufständischen Anarchismus zu halten, schien uns zu dreist und verwirrt, um sie so im Raum stehen zu lassen. Also schien es uns angemessen diese scharfe Kritik Wolfi Landstreichers zu übersetzen um endlich einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen zu können. Es ist nicht so, dass es nicht längst eine Hand voll Kritiken gegeben hätte, die dies versucht hätten. Jedoch genügte dies anscheinend nicht um dieser Verwirrung auf theoretischer, praktischer und historischer Ebene ein Ende zu bereiten, die selbstredend für die unerträgliche Litanei der (deutschen) Linken ist. Anscheinend blendet das schriftstellerische Talent des Unsichtbaren Komitees seine Leserschaft derart, dass diese vergisst, dass irgendein inhaltsleeres Gefasel über den Aufstand einen noch lange nicht zum Anarchisten macht und sich das Komitee auch keineswegs dem Anarchismus nahe sieht.
Ergänzend sollte bemerkt werden, dass die hier veröffentlichte Kritik sich ausschließlich mit dem Buch Der kommende Aufstand befasst, dieser jedoch eigentlich nur ein Werbetrick für ein größeres ideologisches Projekt seiner Schreiber ist: Der kommende Aufstand ist im Prinzip nur ein ideologischer Werbegag für den Aufruf und seinen Vorschlag „die Partei aufzubauen“. Hier wird auch klar, wieso im kommenden Aufstand eine solche Anstrengung gemacht wird Individuen zu Fiktionen zu erklären: Weil eben das eigentliche Projekt dahinter ein autoritäres ist, eines, das Gehorsam verlangt, und Der kommende Aufstand nur ein Mittel ist um Anhänger für ihre Sekte zu sammeln. Dieses Projekt versucht die Rebellen mit dem Schein der Subversion einzufangen, ihnen aber das Bewusstsein und den Stolz der eigenen Individualität auszureden, um dann als einzige Erlösung mit einem einfachen Vorschlag dazustehen: Wir haben die perfekte Strategie, die besten Argumente, und du kannst Teil von uns (der Sekte, der (gar nicht mehr so) imaginären Partei) werden – einzige Anforderung: Gib dich auf für uns, verleugne dich selbst. Soweit, so altbekannt. Es ist die Logik jeder Sekte, zu jeder Zeit. Es ist die Logik der Religion, nicht umsonst ist die ideologisch-theologische Basis Tiqqun von Der kommende Aufstand und Aufruf nach dem kabbalistischen* Wort für Erlösung benannt. Dass die Religion, die uns hier angepriesen wird, eine aufständische ist, sollte uns nicht verwirren, es sollte uns nur bestärken in der Kritik an jeder Autorität und der Bestärkung der individuellen Autonomie gegenüber allem und jedem.
Dass die Tiqqun-Ideologie gestern wie heute neu verpackt wird und durch radikale Milieus geistert, zeigt wohl auch das Erscheinen und die Übersetzung von Hallo – Ein Gruß von Nirgendwo. Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Aufrufs tauchte dieses kleine Pamphlet auf und beginnt ebenso wie Der kommende Aufstand und der Aufruf mit einer recht banalen Beschreibung alltäglicher Situation – in diesem Falle von kommunikativen bzw. nicht-kommunikativen Situationen. Nicht um davon ausgehend eine Analyse zu vertiefen, die versucht herauszufinden, wie und warum Mechanismen der Macht funktionieren und darauf aufbauend die Möglichkeit bietet herauszufinden, wie und wo diese angreifbar ist, nein, dies geschieht nur um eine recht generelle Skepsis gegenüber sozialem und politischem Leben im allgemeinen, einschließlich Moralismus, Politik und Repräsentation auszudrücken. In diesem Sinne artikuliert es schlicht ein generelles Unbehagen auf emotionaler Ebene gegenüber dem Bestehenden – ein Unbehagen, das man sicherlich nachempfinden kann und dessen Beschreibungen vielleicht sogar mitreißend sein können – welches allerdings nur dem Vorschlagen eines nicht weiter beschriebenen oder erklärten „commitments“ dient, dem wir uns verpflichten sollen. Ähnlich wie den anderen von der Tiqqun-Sekte und deren Umfeld beworbenen Produkten hängt dieser „Wahrheit, von der wir nicht ablassen“ und die uns zusammenschweißt und das Bilden von (irgendwelchen) Kommunen ermöglicht bzw. der „Partei“ bzw. diesem „commitment“ ein gewisser Mythos an, da wir eigentlich nicht so genau wissen, was eigentlich gemeint ist und uns nur gut zugeredet wird uns im Angesicht der momentanen Totalität der Scheiße diesem etwas zu verpflichten. Somit ist es an sich nur leeres Gerede, das einem in dem Versuch das Bestehende umzuwälzen recht wenig nützen wird. Und dabei sollten wir uns nicht davon beirren oder ködern lassen, dass diese eigentliche relative Inhaltsleere sich nun im Fall von „Hallo – Ein Gruß von nirgendwo“ einen individualistischen bzw. egoistischen Jargon aneignet, plötzlich anti-politisch präsentiert wird und dass wir mit den Autoren eine Ablehnung von Moral, Parlamentarismus, Repräsentation und sonstigem Schrott teilen mögen – denn das, was uns zu Kameraden machen würde, wäre das Austauschen, Teilen und Kennen von jeweiligen Analysen, Ideen und Perspektiven und nicht nur das Teilen eines gemeinsamen Unbehagens und das gemeinsame Ablehnen bestehender Werte. Das mag vielleicht genug sein um eine Partei, eine Kommune oder Sekte zu bilden, aber es wird nicht genug sein um als Individuum, das sich scheut seine Ideen und Motivationen hinter einem mythischen Schleier, gewandter Rhetorik oder höheren Kollektiven zu verstecken, herauszufinden, wer seine wahren Freunde und Feinde sind.
Herbst 2014