Junge Welt: Kein Komplize werden

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Die Verhältnisse nicht nur ablehnen, sondern bekämpfen: Ein Buch über den Schweizer Anarchisten Marco Camenisch, seit den 90ern in Haft

Junge Welt, von Patricia D’Incau

Deutschland hatte die RAF, Italien die Brigate Rosse und die Schweiz Marco Camenisch. Dieser Anarchist und AKW-Gegner aus dem Bergkanton Graubünden begreift sich »Lebenslänglich im Widerstand«. Das ist zumindest der Titel einer Biographie über ihn, die Kurt Brandenberger nun vorgelegt hat. Tatsächlich ist es die eines Unbeugsamen, der sich bis heute zum revolutionären Kampf bekennt.

Dem Buch liegen stundenlange Gespräche zwischen Camenisch und dem, wie er ihn nennt, »scheißbürgerlichen Journalisten« Brandenberger zu Grunde. Camenisch hat es autorisiert, hegt aber zwiespältige Gefühle gegenüber dem Projekt. Es ist ein journalistisches und biographisches, kein politisches. Aber nichtsdestotrotz ein wichtiges für die Schweizer Oppositionsgeschichte.

Diese hier beginnt in den frühen 70er Jahren, als der 20jährige Camenisch vorzeitig vom Gymnasium abgeht. Weil er nicht »Komplize« werden wollte, »von Verhältnissen und Machtstrukturen, die ich nicht nur ablehne, sondern bekämpfen will«. In den Jahren der »Ausreife« als Hirte und Hilfsarbeiter festigt sich diese Haltung bei Diskussionen über die Rolle des Staats und die Macht der Konzerne, über die Ausbeutung des Südens und die Zerstörung der Natur, global und in der direkten Umgebung.

Während im Schweizer Flachland das sechste Kernkraftwerk in Planung ist, stellt sich Camenisch in den Bergen die Frage, ob sich »dieses zerstörerische System reformieren« lässt, und was zu tun ist, »wenn es fünf vor zwölf ist, gutmeinende Worte nichts fruchten, wenn Kritik, wissenschaftliche Ergebnisse, politische Appelle keine Konsequenzen haben«. Seine Antwort sind Ende 1979 zwei Anschläge auf Einrichtungen der Nordostschweizerischen Kraftwerke. »Du hast dabei auch Vorbilder eines solchen Kampfes im Kopf«, bilanziert er später und meint die Indigenen im Amazonasbecken oder überhaupt die Bewegung in Lateinamerika. Mit seinen damaligen Anschlägen knüpfte er jedoch auch an die Sabotageaktionen des radikalen Flügels der Antiatomproteste an, die sich gegen den Bau des Kernkraftwerks Kaiseraugst, nahe der deutschen Grenze, formiert hatten. So war Camenisch, als er in den Bergen ? fernab von Kaiseraugst ? den militanten Kampf aufnahm, nicht der erste »Saboteur« auf Schweizer Boden. Aber er sollte der erste und einzige sein, der belangt werden konnte.

An ihm exekutierte die Schweizer Justiz 1980 ein Exempel: zehn Jahre Zuchthaus. Im Herbst 1981 gelingt Camenisch die Flucht. Fortan lebt und wirkt er im Untergrund. Im nahen Italien, im fernen Übersee und auch immer wieder in der Schweiz. Er operierte im »Gehirn des Ungeheuers«, wie es Che Guevara einst ausdrückte, »im Herzen der Finanzoligarchie«, wie Camenisch sagt.
Zum Verhängnis wird ihm der 3. Dezember 1989. Der Tag, an dem er das Grab seines Vaters besucht, ist der Tag, an dem im Ort ein Grenzwächter erschossen wird. Schnell fällt der Verdacht auf den Flüchtigen, der erst 1991 in der Toskana verhaftet wird. 2002 wird er an die Schweiz ausgeliefert, wo er in einem Indizienprozess des Mordes für schuldig befunden wird. Im Gerichtssaal erklärt der Angeklagte, der bis dato jegliche Aussagen verweigert hat, dass er »auch als bewaffnet kämpfender Revolutionär« niemals getötet habe, »und schon gar nicht habe ich einen wehrlos am Boden Liegenden in den Kopf geschossen. Solche Niedertracht ist für mich schlicht nicht denkbar.«

Die Justiz spricht ein Strafmaß, das sich, ergänzt um frühere Strafen, auf 29 Jahre Haft beläuft. »Viel mehr als lebenslänglich«, ein Verstoß gegen geltendes Recht. Die Strafe wird später auf Geheiß des obersten Schweizer Gerichts reduziert. Doch eine vorzeitige Entlassung bleibt dem Anarchisten, trotz guter Führung, verwehrt. Wegen »delinquenzfördernder Weltanschauung«, seinem anhaltenden Bekenntnis zum revolutionären Kampf.

»Wie hältst du das aus?«, fragt Brandenberger. »Was mir hilft, ist (…) die Solidarität«, antwortet Camenisch. Obwohl er fast seit einem Vierteljahrhundert hinter Gittern ist, bleibt er aktiver Teil der Bewegung, sowohl in der Schweiz als auch international. Er übersetzt Texte, verfasst Erklärungen, hat die »Rote Hilfe International« mitgegründet. »Den Kampf gegen die Herrschenden können wir streckenweise gemeinsam führen«, sagt Camenisch über seine politische Arbeit, die sich nicht nur an anarchistische Kreise richtet. »Positionsübergreifende Klassensolidarität« heißt das bei ihm. »Schulter an Schulter: Du drinnen, wir draußen«, schreibt ihm Andrea Stauffacher vom marxistisch-leninistischen Revolutionären Aufbau in einem Brief. Camenischs Widerstand ist ein kollektiver. Auch das ist ein verbindendes Element in dieser Geschichte.

Entlassen wird Marco Camenisch voraussichtlich im Alter von 66 Jahren, am 8. Mai 2018. Dem »Tag der Befreiung«.

Kurt Brandenberger: Marco Camenisch. Lebenslänglich im Widerstand. Echtzeit Verlag, Basel 2015, 208 Seiten, 27 Euro